Dein Gedächtnis schummelt – warum das eine gute Nachricht ist


Warum uns das Gedächtnis gerne Streiche spielt – und wie wir falsche Überzeugungen entlarven können



Unser Gedächtnis – mehr Geschichtenerzähler als Archiv

Was hattest du vorgestern zum Mittagessen? Und welche Kleider hast du dabei getragen? Was hast du vor einer Woche zu Abend gegessen? Wer war dabei?
Schon bei solch simplen Fragen gerät unser Gedächtnis ins Schleudern. Mal schiebt es eine falsche Erinnerung ein („War das Pizza oder doch Pasta?“), mal klafft einfach eine Lücke.

Unser Gehirn ist kein zuverlässiges Archiv – es ist eher ein kreativer Geschichtenerzähler. Und genau das könnte uns helfen – wenn wir lernen, das zu unserem Vorteil zu nutzen.

Wie entstehen falsche Erinnerungen – und warum betreffen sie uns alle?

Die Neurowissenschaft zeigt: Erinnerungen funktionieren nicht wie ein Video, das wir zurückspulen und neu abspielen können. Jede Erinnerung wird beim Abrufen neu zusammengesetzt. Wir füllen Lücken nach Wahrscheinlichkeit, verdrehen Details, tauschen Namen aus („War’s Anna oder Andrea?“) und fügen neue Informationen dazu, die wir erst nach dem Ereignis gewonnen haben.

 

Kleine Experimente mit deinem Gedächtnis


Der chaotische Text -wenn dein Gehirn Sinn hineinzaubert

„Menschlchie Geherni kenönn Sztäe lseen, owbohl dei Bastchbeun drian ducrhnnieadner snid.“

Faszinierend, oder? Dein Gehirn hat den Satz trotzdem entschlüsselt:
„Menschliche Gehirne können Sätze lesen, obwohl die Buchstaben darin durcheinander sind.“

Warum? Weil dein Gehirn nach Mustern sucht. Es macht das Unpassende passend, bis es Sinn ergibt. Genau so füllt es auch Lücken in deinen Erinnerungen – und das Ganze wirkt plötzlich „rund“.

Das Gehirn schummelt auch beim Zuhören oder Hinsehen: Eindrücke, die nicht passen oder zu viel Energie kosten, werden einfach ausgeblendet. Wir nehmen also nie alles wahr, sondern nur das, was für unser Gehirn gerade praktisch ist.

Vergangenheit ist keine feste Größe

Wenn wir anfangen, unsere Erinnerungen zu hinterfragen, erleben wir oft Überraschungen: Erzählen wir mit Freunden oder Verwandten von früher, sind wir uns erstaunlich oft uneinig.

Erinnerungen sind formbar – wie Knetmasse. Und das ist ganz normal.

Und wenn du jetzt denkst, dass fehlerhafte Erinnerungen nur Menschen betrifft, die dafür anfällig sind oder die an einer Krankheit oder Störung leiden – liegst du daneben. Fehlerhafte Erinnerungen sind die Norm. Genauso haben wir ständig Erinnerungen, die sich für uns total echt und wahr anfühlen, jedoch nicht auf tatsächlichen Situationen beruhen. Jedoch können die Folgen solcher falscher Erinnerungen sehr real sein in unserer Wahrnehmung. Es kann alles betreffen in unserem aktuellen Leben und hat die Macht, uns viel Freude oder tiefen Kummer und Verzweiflung zu bringen.

Diese Abläufe zu verstehen, kann dir helfen die Infos aus deinem Gedächtnis – deine Gedanken und Gefühle – anders zu bewerten und zu nutzen. Du musst sie nicht alle glauben.

Kollektive Überzeugungen – wenn viele etwas sagen, muss es wahr sein!?

Nicht nur unsere persönlichen Erinnerungen täuschen uns – auch kollektive Glaubenssätze prägen unser Denken. Manche klingen nach Humor, andere nach Weisheit, viele sind schlicht bequem abgespeicherte „Wahrheiten“.

Bekannte Glaubenssätze und warum sie nicht stimmen müssen

  • „Männer können nicht zuhören.“
  • „Frauen sind besser im Multitasking.“
  • „Früher war alles besser.“
  • „Das Leben ist kein Ponyhof.“
  • „Der frühe Vogel fängt den Wurm.“

Wir alle haben solche Sätze zigfach gehört. Doch nur weil sie ständig wiederholt werden, macht es sie noch nicht wahr.

Diese Alltagsweisheiten sind wie kleine, kollektive „falsche Erinnerungen“. Wir übernehmen sie unbewusst, erzählen sie weiter, leben danach – und merken gar nicht, dass wir längst einer Geschichte aufsitzen.

Was Studien über Multitasking verraten

Studien zeigen zum Beispiel klar: Multitasking funktioniert weder bei Männern noch bei Frauen. Unser Gehirn verarbeitet Informationen eine nach der anderen. Wir sind einfach nur trainiert im schnellen Hin- und Herspringen – allerdings beeinträchtigt das unseren Fokus und die Qualität unserer Arbeit.

Wie Erinnerungen dein Selbstbild beeinflussen

Erinnerungen als Bausteine deiner Identität

Erinnerungen sind die Bausteine unseres Selbstbildes. Was wir über uns glauben – „Ich bin nicht gut in Mathe“, „Ich kann keine Namen behalten“, „Ich bin nicht gut genug“ – speist sich aus Erlebnissen, die wir mit Bedeutung aufgeladen und dann abgespeichert haben.

Aber wenn wir uns später daran erinnern: haben diese prägenden Ereignisse wirklich so stattgefunden? Oder sind auch sie Ergebnis von Denkfallen und schief gespeicherten Erinnerungen?

Wenn alte Erlebnisse dein Heute bestimmen

Vielleicht hat dich in der Schule ein Lehrer kritisiert – und du hast daraus ein Urteil über dich selbst gemacht, das bis heute wirkt. Oder jemand glaubt: „Ich werde immer übersehen“, weil er als Kind wenig Aufmerksamkeit bekam. Doch die Realität heute sieht längst anders aus.

Wenn Erinnerungen so fehleranfällig sind – wie verlässlich sind dann unsere Überzeugungen und unser Selbstbild?

Erinnerungen hinterfragen – Glaubenssätze heilen

Hier liegt deine Chance: Wenn du beginnst, dein Gedächtnis zu hinterfragen, kann sich das ganze Geflecht von alten Erinnerungen und Überzeugungen lockern.

Übung 1: Erinnerungs-Check

Wenn du magst, schließe die Augen und rufe dir den vorletzten Dienstag ins Gedächtnis.

  • Was hast du gemacht?
  • Wie war das Wetter?
  • Mit wem warst du zusammen?
  • Was hattest du an?

Notiere deine Antworten und überprüfe sie. Schnell merkst du: Dein Gedächtnis ist lückenhaft, nicht immer sicher, ist in Versuchung Details zu ergänzen – manchmal sogar falsch. Diese Übung ist noch spannender, wenn du ein Ereignis nimmst, bei dem mehrere Personen anwesend waren und du die anderen fragst, wie ihre Erinnerungen aussehen? Wo stimmt ihr überein? Und wo seid ihr euch komplett uneinig?

Übung 2: Glaubenssatz auf die Probe stellen

Schreib spontan einen Satz auf, den du immer wieder über dich denkst, z. B.:
„Ich bin nicht gut im Merken von Namen.“

Frag dich dann:

  • „Ist das wirklich immer so?“
  • „Gibt es Ausnahmen?“
  • „Was wäre, wenn das gar nicht stimmt?“
  • „Wer sagt das eigentlich?“

So öffnest du einen Spalt in der starren Überzeugung – und eine neue, befreiende Sichtweise kann entstehen.

Übung 3: Muster erkennen

Wenn du das nächste Mal einen Text mit Tippfehlern liest, beobachte: Dein Gehirn versteht trotzdem, was gemeint ist. Frag dich dann:
„Wo mache ich das auch mit meiner Vergangenheit – und baue mir eine Geschichte zusammen, die gar nicht stimmen muss?“

Fazit – Dein Gedächtnis als Türöffner

Dein Gedächtnis schummelt. Es füllt Lücken, verdreht Details, bastelt Geschichten. Und vielleicht fragst du dich nach diesen Zeilen, ob deine erinnerte Vergangenheit, die dir heute Probleme zu verursachen scheint, überhaupt nützlich ist, um im Leben gut zurechtzukommen? Wieviel weisst du sicher über dich und dein Leben? Oder gäbe es da noch einiges zu entdecken, das dir bisher entgangen ist? Und vielleicht kannst du offen dafür werden, die Bewertung deiner alten Geschichten nochmals zu hinterfragen – und damit die Tür zu mehr innerer Freiheit zu öffnen.

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